Russlanddeutsche Geschichte in der Kontroverse 1986-91
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Kapitel 1. “Erweckungs”- und Petitionsetappe 1986-87

 

Als ein geschichtlich interessierter Mensch war man in der sibirischen Metropole Nowosibirsk gut aufgehoben. Die Staatliche Öffentliche Wissenschaftlich-Technische Bibliothek der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (SO AN SSSR) war die drittgrößte Bücher- und Zeitschriftensammlung in der Sowjetunion, nach den Nationalbibliotheken in Moskau und Leningrad. Deshalb konnte ich dort in den Jahren 1983-87, wo ich am akademischen Institut für Wirtschaftsforschung (Institut Ekonomiki i Organisazii Promyschlennogo Proiswodstwa) tätig war, viele seltene Veröffentlichungen aus dem 19. und bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts einsehen und teilweise mikrofilmieren bzw. kopieren. Das betraf vor allem die ansonsten kaum zugänglichen Publikationen über die deutsche Minderheit bzw. die Wolgadeutsche Republik. Zum anderen kam mir die von Haus aus erworbene und im Selbststudium vertiefte Kenntnis der deutschen Sprache zu Gute. Damit konnten neben den Veröffentlichungen, die vor 1941 in der Sowjetunion auf deutsch erschienen oder von wenigen Ausgaben aus der Bundesrepublik (1) oder DDR zu dieser Thematik abgesehen, in erster Linie die aktuellen historischen Publikationen des Almanachs “Heimatliche Weiten” (ab 1981, Moskau) und geschichtliche Artikel in deutschsprachigen Zeitungen sowie Publikationen des deutschen Lektorats beim Verlag “Kasachstan”, Alma-Ata berücksichtigt und ausgewertet werden. Bei allen Zensurbeschränkungen enthielten sie eine Fülle von brisantem geschichtlichem Material, das in russischer Sprache nicht gedruckt werden durfte. Die Sowjetbehörden konnten es sich sogar leisten, Schilderungen der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ereignisse der 1920er - 1930er Jahre in der Wolgadeutschen Republik zu genehmigen.

    Exemplarisch dazu die dreibändige Ausgabe: Bis zum letzten Atemzug. Bände I-III. Alma-Ata 1968-75. Dort handelt es sich vor allem um die revolutionären Umwälzungen im deutschen Dorf nach 1917, es wurden “ruhmreiche” Taten der deutschen Sowjet- und Parteifunktionäre an der Wolga und anderswo geschildert, der Patriotismus und Heldenmut der Sowjetdeutschen an den Fronten des Krieges 1941-45 und ähnliches mehr hervorgehoben. Für die meisten Autoren dieser Beiträge – Journalisten, Publizisten oder Schriftsteller, die ihre Sozialisation z.T. in der einstigen Wolgadeutschen Republik erlebt hatten – ging es offensichtlich um etwas mehr als die bloße Verherrlichung der bolschewistischen Vergangenheit. In der damaligen Zeit, in der russischsprachige Monographien, populäre Literatur und Schulbücher sogar diese Vergangenheit der deutschen Minderheit total verschwiegen bzw. leugneten, dieselbe der anderen sowjetischen Völkerschaften aber ständig betonten, waren derartige Angaben über “sowjet”deutsche Revolutionäre und Helden ein Schritt auf dem Weg zur Anerkennung einer sowjetischen Vergangenheit, ein Beweis, daß die Rußlanddeutschen ein sowjetisches Volk sind und deshalb auch Anspruch auf die gleiche Behandlung wie andere Nationalitäten – also auch auf eine territoriale Autonomie – besitzen.

Bei einer verschwindend geringen Zahl solcher Vertreter dieser Minderheit, die noch des Lesens auf deutsch mächtig waren, galt das Risiko der Bildung eines geschichtsträchtigen Selbstbewußtseins und den daraus resultierenden Anspruch auf nationale Gleichberechtigung als gering. Auch eine Aufnahme solcher Ansichten in die sowjetische Geschichtsschreibung wurde wegen der Unkenntnis der deutschen Sprache und bestehender Ignoranz der meisten professionellen Historiker nicht befürchtet.

Wichtige Anregungen vermittelten zudem Briefkontakte mit dem Wochenblatt der ungarndeutschen Minderheit “Neue Zeitung”, die seit September 1986 bestanden. Meinen Brief an die Redaktion der regierungsamtlichen ungarischen Monatsschrift in russischer Sprache “Wengerskie Nowosti” (Ungarische Nachrichten), die für den sowjetischen Leser bestimmt wurde, in dem ich mich über die Lage der deutschen Minderheit erkundigte, übermittelte die Redaktion dem Wochenblatt des Demokratischen Verbandes der Ungarndeutschen, der “Neuen Zeitung”. (2)

    Die Kontakte mit “Wengerskie nowosti” brachen indes nicht ab: das Novemberheft des Blattes aus dem Jahr 1987 druckte einen Auszug aus einem anderen Brief nach, wo ich mich über die Lösung der Nationalitätenfrage in Ungarn interessiert zeigte, und versprach in nächster Zeit ausführlicher darüber zu berichten. Und tatsächlich enthielt das Märzheft 1988 einen ausgedehnten Beitrag über nationale Minderheiten und ihre rechtliche Lage im heutigen Ungarn, u.a. über das Schicksal der deutschen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Vom stellvertretenden Chefredakteur der “Neuen Zeitung”, Johann Schuth, konnte ich auf dem Umtauschweg sehr aufschlußreiche Werke über die Geschichte und Kultur der Ungarndeutschen erhalten. Die Informationen, die sich in solchen Ausgaben wie “Deutscher Kalender” oder “Beiträge zur Volkskunde der Ungarndeutschen” befanden, waren für mich wie eine reine Offenbarung: die deutsche Minderheit durfte ihre Interessenvertretung, den Demokratischen Verband haben und einen Repräsentant direkt ins Parlament entsenden; die von den Deutschen mehrheitlich besiedelten Ortschaften wurden zweisprachig ausgeschildert; die Nationale Akademie der Wissenschaft der Republik Ungarn organisierte ethnographische Untersuchungen und Mundartforschungen in Siedlungen der Volksgruppe; das staatliche ungarndeutsche Museum in Totis/Tata stellte zahlreiche Zeugnisse geistiger und materiellen Kultur der deutschen Minderheit aus; vom Kindergarten bis ins Gymnasium bestand die Möglichkeit, zweisprachigen Unterricht in ungarisch/deutsch zu genießen. Kaum zu fassen! Dazu noch das Treffen Janos Kadars, des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, mit den Generalsekretären der Nationalitätenverbände im Dezember 1983, darunter auch mit dem der Ungarndeutschen, Gesa Hambuch. Und ein hochrangiger Parteifunktionär, der auf dem 6. Kongreß der Minderheit auftrat, äußerte solche ketzerische Ansichten wie “eine Heimat kann es nur dort geben, wo das Recht gilt” (Zitat nach Petöfi), bezeichnete die totale Deportation der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg als einen Fehler und fand, daß “wir das Interesse seitens des benachbarten Österreichs und der Bundesrepublik für das Leben der Ungarndeutschen für natürlich halten” (!) usw. (3)

    Der Vergleich mit der Lage der deutschen Minderheiten in anderen sozialistischen Ländern sollte unbedingt vermieden werden. Damit erklärt sich der Umstand, daß in der Sowjetunion der Bezug von einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften nicht gestattet wurde. Auf diesbezügliche Anfrage bekam ich vom Chef der Zentralen Agentur für ausländische Periodika folgende Antwort: “In unserem Land kann die Zentrale Agentur den Bezug nur solcher Periodika anbieten, die im “Katalog der ausländischen Zeitungen und Zeitschriften” eingetragen sind. Die Zeitschriften “Neue Literatur”, “Forschungen zur Volks- und Landeskunde” sowie die Zeitungen “Neuer Weg” und “Neue Zeitung” sind im Katalog nicht eingetragen, deshalb kann die Zentrale Agentur Ihnen beim Abonnieren dieser Ausgaben nicht behilflich sein.” (4)

Unwillkürlich dachte man dabei an die Politik der sowjetischen Partei- und Staatsführung in Bezug auf die einheimischen Deutschen – himmelschreiender Unterschied, so meine damalige Reaktion! Man sah doch, es konnte sich in einem sozialistischen Land ein normales Verhältnis zu der deutschen Minderheit entwickeln, obwohl einem als mehr oder wenig politisch interessierten Zeitgenossen einleuchtete, daß diese tolerante Innenpolitik eher dem Wohlergehen der Auslandsungarn dienen sollte, als der aufrichtigen Einsicht in die Notwendigkeit der Einhaltung der Minderheitenrechte folgte. Mehrere Beiträge und Anregungen wurden direkt oder indirekt durch das Beispiel der Ungarndeutschen inspiriert, darunter einige Überlegungen zum zweisprachigen Unterricht (5) oder der Vorschlag zur Gründung eines Kulturvereins der Deutschen in der UdSSR. (6)

Nicht zuletzt galt die akademische Elite in der Sowjetunion traditionell als Hort von Freidenkern und Liberalen. Die 1957 gegründete SO AN SSSR mit ihrem Zentrum in Nowosibirsk, erzeugte eine  Aufbruchsstimmung und schaffte größere geistige Freiräume, als es selbst in Moskau oder Leningrad (St. Petersburg) der Fall war. Nicht von ungefähr wirkten ausgerechnet hier die Vordenker der Perestrojka, die Soziologin Tatjana Saslawskaja oder der Ökonom Abel Aganbegjan. (7a) Ich konnte ihren Auftritten öfters bei internen Versammlungen, Vorträgen oder Seminaren in unserem Institut für Wirtschaftsforschung beiwohnen, wo die beiden tätig waren und somit ihre Ansichten in einer Zeit der tiefsten Stagnation, während der Regierungszeit des greisen Generalsekretärs Tschernenko, kennenlernen. Die wenigen Wissenschaftler deutscher Abstammung, auf die man im Akademiestädchen, auf russisch akademgorodok traf – so hieß der etwa 20 km von dem Stadtkern entfernte Ort, wo sich die meisten akademischen Einrichtungen befanden – zeichneten sich, was die nationale Gleichberechtigung betraf, durch eine eher untypische kämpferische Geisteshaltung aus. Es war kein Zufall, daß sich ausgerechnet im Umfeld des Nowosibirsker akademgorodok eine der letzten Episode des politischen Dissidententums der Deutschen in der Sowjetunion ereignete: am 10. Februar 1983 wurden Konstantin Asmus, Viktor Axt, Wjatscheslaw Maier und Christian Ramchen vom Nowosibirsker Gebietsgericht für schuldig erklärt, ein Buch mit “vorsätzlich unwahren Aussagen” über die Lage der Deutschen in der UdSSR vorbereitet zu haben und es unter den Landsleuten einzubringen versucht sowie zahlreiche “verleumderische” Petitionen an verschiedene Institutionen in der Sowjetunion gerichtet zu haben. (7b) Asmus und Axt waren Mitarbeiter der akademischen Institute, Maier arbeitete früher als Soziologe ebenfalls im akademgorodok, auch Ramchen pflegte als Abteilungsleiter eines Nowosibirsker Forschungsinstituts enge Kontakte mit der SO AN SSSR. (8)

Einer der Akademiker, der sich besonders für historische und politische Fragen interessierten, war Alexei Miller, ein Doktorand am Institut für anorganische Chemie. Zusammen mit ihm verfaßten wir im September 1986 einen langen Brief an die gerade ins Leben gerufene sowjetische Kulturstiftung – Sowetski fond kultury – mit der Bitte, die Gründung eines nationalen Museums als Ausgangspunkt zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen zu unterstützen (Urtext russisch vom 30.09.86).

Wie es in der Sowjetunion üblich war, artikulierten die Literaten stets als erste die totgeschwiegenen Ereignisse der Vergangenheit oder brennende Probleme der Gegenwart. Mein erster opus magnum – 20 Seiten des noch handschriftlichen Textes - schrieb ich im August 1986. Als Anlaß dienten prosaische Skizzen des bekannten russischen Schriftstellers Wiktor Astafjew “Der Gründlingfischfang in Georgien – lowlja peskarei w Gruzii”, veröffentlicht im Maiheft 1986 der Zeitschrift des russischen Schriftstellerverbandes “Unser Zeitgenosse - Nasch sowremennik”. Dort äußerte er sich etwas abfällig über einige Sitten in dieser Kaukasusrepublik, was ihm wütende Proteste der georgischen Schriftsteller entgegenbrachte. Diese Angelegenheit wurde, im Gegensatz zu üblichen Gepflogenheiten, auf den Seiten der Monatsschrift ausgetragen. Dieser und ähnliche Vorfälle zeigten deutlich: man begann allmählich, den tatsächlichen Zustand der zwischenethnischen Beziehungen, der sog. Freundschaft der brüderlichen Sowjetvölker öffentlich zu besprechen und das bleierne Schweigen zu brechen. Mich direkt an den Schriftsteller wendend, versuchte ich ihm die Lage der Rußlanddeutschen zu erklären. Im nachhinein stellte sich das ganze Skript als ziemlich unausgegoren und chaotisch dar. Man kann sich leicht vorstellen, welch eine Lawine von ähnlichen Leserbriefen sich über die Redaktionen der Massenmedien ergoß. Nach dem gültigem Gesetz mußte jedes Schreiben beantwortet werden, was aber nicht jedesmal  geschah. Immerhin kam eine Mitteilung aus der Redaktion mit dem Versprechen, den Brief dem Schriftsteller Astafjew zu überreichen.

Im Gegensatz zu den zentralen russischen Zeitungen und Zeitschriften blieben die deutschsprachigen “Presseorgane” auffällig zurückhaltend. In den Spalten des Moskauer “Neuen Lebens”, der “Freundschaft” (Zelinograd, ab Mitte ‘87 in Alma-Ata) und der “Roten Fahne” (Slawgorod/Altai) waren 1985-87 kaum Beiträge über die brennenden Probleme der Vergangenheit und Gegenwart der Rußlanddeutschen zu finden. Meine vorsichtigen Verbesserungsvorschläge in Bezug auf den Inhalt der Zeitungen, die Gestaltung des muttersprachlichen Unterrichts, die Aufklärung der geschichtlichen Vorgänge usw., gestützt auf Erfahrungen der Ungarndeutschen, stießen auf eine einheitlich ablehnende Haltung der Chefredakteure – hier sei z.B. auf den Brief an Leo Weidmann, den Chefredakteur der “Freundschaft” zu verweisen (Urtext russisch vom 20.12.87). Beim Lesen dieser Blätter entstand unwillkürlich der Eindruck, daß außer der vom bösen Westen provozierten Emigration sonst nichts das Gemüt eines echten sowjetischen Deutschen trübt. Die Richtlinien zur Behandlung dieser Frage kamen von ganz oben. Als eine “Antwort” auf die Anhörung im Bundestag im November 1984 über die Lage der deutschen Minderheit in der UdSSR und anderen osteuropäischen Staaten faßte das Politbüro des ZK der KPdSU am 28. Dezember 1984 (9) den Beschluß über die Maßnahmen, die gegen diese “propagandistische Kampagne” ergriffen werden mußten. (10) Ein Jahr später veranstaltete das ZK der KPdSU eine Beratung mit den Vertretern des KGB und Parteisekretären von Republiken oder Gebieten mit einem beträchtlichen Teil der deutschen Bevölkerung, um eine Zwischenbilanz der geleisteten Arbeit zu ziehen. (11) Dort hielt der Sekretär des ZK der KPdSU, Simjanin, eine programmatische Rede, die die sowjetischen Massenmedien u.a. noch mehr zum Kampf gegen Ausreisewillige und Gläubige verpflichtete.

Man organisierte inzwischen zahlreiche Artikel und Briefe von einfachen Menschen und sog. Vorzeigedeutschen: Deputierten des Obersten Sowjets der UdSSR bzw. der Unionsrepubliken, Parteifunktionären verschiedener Ränge, bekannten Betriebsdirektoren, Kolchosvorsitzenden usw., die die eigenen Produktionserfolge bzw. ihrer Arbeitskollegen priesen, das glückliche Leben ihrer Landsleute in der UdSSR lobten, die gleichberechtigte Stellung der Sowjetdeutschen unterstrichen, “verführte” Ausreisewillige der Dummheit, Naivität und des Verrats ihrer sozialistischen Heimat bezichtigten und die westdeutschen “Drahtzieher” scharf verurteilten. Diese Artikel und Stellungnahmen erschienen vornehmlich in sowjetdeutschen Zeitungen, aber auch nicht selten in russischsprachigen Presseorganen in Kasachstan und Kirgisien. Vor dem Hintergrund der immer kritischer gewordenen zentralen Massenmedien wirkte derartige Servilität besonders unerträglich. Und so forderte ein Beitrag in der Zeitung “Neues Leben”, unterschrieben von Johann Scharf, Held der Sozialistischen Arbeit, Generaldirektor der Zelinograder Produktionsvereinigung für Geflügelhaltung den Widerspruch einfach heraus. Im Artikel ging es recht nebulös über “dramatische Ereignisse” im August 1941, die gewisse Kreise im Westen für die Verwirrung der Sowjetdeutschen nutzen, ohne allerdings dieses Ereignis – eigentlich den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 über die Auflösung der ASSR der Wolgadeutschen – beim Namen zu nennen. Mit einem offenen Brief vom 31. August 1986 versuchte ich eine Diskussion auszulösen, die allerdings weder von der Redaktion noch von dem Unterschriftsgeber Scharf aufgegriffen wurde (Urtext russisch vom 31.08.86).

Die zum 1. Januar 1987 in Kraft getretenen neuen Ausreiseregelungen führten zu einem starken Anwachsen der fast bis zum Erliegen gedrosselten Emigrationsbewegung: allein im ersten Jahr ihrer Gültigkeit stieg die Zahl der Aussiedler mit 14.488 um das 19fache gegenüber dem Jahr 1986, in dem nur 753 Personen ausreisen durften. (12) Dadurch bekamen propagandistische Attacken in den Massenmedien gegen Ausreisewillige einen zusätzlichen Auftrieb. Auch die Jugendzeitung “Leninskaja smena” (Lenins Nachfolge), die in russischer Sprache in Kasachstan erschien, konnte und durfte wohl nicht abseits stehen. In der ständigen Rubrik “Meine Heimat ist hier – Heimat ist einzig” wurden zahlreiche mißbilligende Zuschriften von jungen Komsomolzen und betagten Aktivisten verschiedener Nationalitäten veröffentlicht, die von einer totalen Unkenntnis der geschichtlichen Kausalzusammenhänge gekennzeichnet waren. Schlimmer noch, einige Teilnehmer rechtfertigten die Deportation der deutschen Minderheit im Zweiten Weltkrieg. Mein Protestbrief, in dem ich in zugespitzter Form die Politik der Nationalitätenförderung durch Lenin mit Stalinschen Unterdrückungsmaßnahmen verglich, schmorte fast ein halbes Jahr in den Redaktionsstuben. Die widersprüchliche politische Situation im Lande schlug sich in der Antwort eines Abteilungsleiters der Zeitung vom 16. November 1987 nieder: das zugeschickte Schreiben enthält zwar wenig bekannte Fakten aus der Geschichte der Rußlanddeutschen und ist längst zum Druck vorbereitet, aber konnte “aus den Ihnen wohl bekannten Gründen” noch nicht veröffentlicht werden. Das war eine deutliche Anspielung auf die Absetzung von Boris Jelzin von der Spitze des Moskauer Stadtparteikomitees, die offiziell am 13. November d.J. verkündet wurde. Die Reformkräfte in der sowjetischen Gesellschaft empfanden seine Ablösung als einen herben Rückschlag, auch für Gorbatschew. (13) Nach Meinungen einiger Beobachter konnte der Generalsekretär durch den erfolgreichen Verlauf des Treffens mit dem amerikanischen Präsidenten Reagen im Dezember 1987 seine Position wieder festigen. (14) Offensichtlich setzte sich die liberalere Richtung vor allem in den Massenmedien durch, so daß meine Zuschrift am 21. Januar 1988 endlich - in abgeänderter und gekürzter Form - erschien. (Urtext russisch aus dem Jahr 1987, Artikel russisch vom 21.01.88). So wurde z.B. aus dem zugesandten Manuskript das Wort “Autonomie” gestrichen und im Gegenzug die ganze Volksgruppe, auch die Wolgadeutschen, zu einer “nationalen Minderheit” erklärt. (15) Immerhin erwähnte zum ersten mal ein russisches Massenblatt in Kasachstan die Existenz der Arbeitskommune der Wolgadeutschen und den Einsatz rußlanddeutscher Militäreinheiten im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten Armee. Diese Jugendzeitung zeigte sich im nachhinein relativ offen für die Belange der deutschen Minderheit und druckte nachträglich eine Reihe von Artikeln, die um Verständnis für ihre nationalen Anliegen warben. (16)

Eine ganz andere Situation herrschte in der zentralen Republikzeitung “Sowetskaja Kirgisija” (Sowjetisches Kirgisien). In keinem anderen russischsprachigen Presseorgan der einstigen UdSSR wurden die deutschen Gläubigen und Ausreisewilligen so oft und verbissen angegriffen wie hier.

    Zum Teil erklärt sich diese aggressive Haltung aus der besonderen Situation in der Republik. Nirgendwo in der UdSSR war die Zahl der Ausreisewilligen so groß wie in Kirgisien: die Behörden schätzten, daß sie Anfang der 1980er Jahre mit den Familienangehörigen etwa 30.000 oder 30% der deutschen Bevölkerung ausmachten. In den Jahren 1970-1980 gelang es annähernd 10.000 Personen, die Erlaubnis für die Umsiedlung nach Westdeutschland zu bekommen. Die Volkszählung von 1989 registrierte in Kirgisien 101.057 Deutsche, davon lebten im Tschu-Tal, auf einer Fläche von etwa 18.600 km² 72.000 Personen; weitere 13.600 wurden in der Hauptstadt Frunse (seit Februar 1991 Bischkek) erfaßt, die ebenfalls in diesem Tal liegt. Dies bedeutete die höchste territoriale Konzentration dieser Minderheit in der Sowjetunion. Zusätzlich erleichterte eine nach sowjetischen Maßstäben gute Verkehrslage die Pflege von innerethnischen Kontakten. Andere Faktoren kamen hinzu: ein hoher Prozentsatz von aktiven Mitgliedern der Kirchengemeinden, das Vorhandensein von Verwandten in der BRD, Konzentration in einigen Kolchosen und Siedlungen, die z.T. noch vor 1941 gegründet wurden, Eheschließungen vornehmlich innerhalb der eigenen Volksgruppe. Unter allen administrativen Einheiten in der UdSSR fielen hier die Deutschen aufgrund des höchsten Grades der Beherrschung der Muttersprache auf. Dank einer Reihe von weiteren Umständen konnte die Mehrheit der Kirgisiendeutschen ihre kulturellen, religiösen und sprachlichen Traditionen weitgehend aufrechterhalten; insgesamt zeichneten sie sich durch ein ausgeprägtes ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl aus. Nicht von ungefähr planten die Nowosibirsker Dissidenten (siehe oben) im Juni 1982 ausgerechnet in Frunse, gemeinsam mit ihren Gesinnungsgenossen vor Ort, eine Demonstration für das Recht auf Ausreise zu veranstalten, was nur durch einen massiven Einsatz von Miliz und KGB scheiterte. In den Jahren 1987-1990 stellten die Emigranten aus Kirgisien 10% bis 28% der Aussiedler dar, obwohl dort nach dem Zensus von 1989 lediglich 5% der “Sowjet”deutschen ansässig waren. (17)

Nach einzelnen Informationen gehörten aktive KGB-Offiziere zu dem ständigen Autorenkreis der Zeitung, die einen exklusiven Zugang zu den für einen normal Sterblichen unzugänglichen westdeutschen Publikationen hatten und offensichtlich über gute Deutschkenntnisse bzw. Übersetzer verfügten. Die geballte Stimmungsmache der “Sowetskaja Kirgisija” und anderer kirgisischer Massenmedien, die nonkonforme Deutsche als willfährige Drahtpuppen der westdeutschen “Sonderdienste” diskreditierten, übertraf bei weitem den merklich nachgelassen Eifer der Medien in Kasachstan: seit den Unruhen im Dezember 1986 waren KGB und einheimische Propagandisten vornehmlich mit der Bekämpfung des “kasachischen Nationalismus” beschäftigt. In einer Zuschrift vom November 1987 stellte ich die völlige Tatenlosigkeit der kirgisischen Seite den zahlreichen Maßnahmen gegenüber, die in Kasachstan zur Befriedigung der sprachlichen und kulturellen Bedürfnisse der deutschen Minderheit seit einiger Zeit unternommen wurden. Zähneknirschend entschloß sich die Redaktion – so das Antwortschreiben – zu der Publikation meiner Kritik (Urtext russisch vom 18.11.87, Artikel russisch vom 09.01.88 , Antwort russisch, 1988 ). (18)

    Diese Publikation lenkte sogar die Aufmerksamkeit der Kommission für nationale und zwischenethnische Beziehungen beim ZK der Kommunistischen Partei Kisgisiens auf sich; man versprach, verstärkt kulturelle und sprachliche Besonderheiten der deutschen Minderheit zu berücksichtigen (Sovetskaja Kirgizija, Nr. 118 vom 21. Mai 1988). Über die Art und Weise, wie die Emigrationsthematik von den visuellen Medien behandelt wurde, gibt mein Schriftwechsel mit dem führenden Journalist und politischen Kommentator des Moskauer Fernsehens, Dmitri Birjukow eine Auskunft. Er leitete von 1986 bis 1991 eine der beliebtesten Fernsehreihen “Kamera smotrit v mir” (Die Kamera schaut in die Welt) und moderierte einige aufsehenerregende Sendungen über die Auswanderung von Rußlanddeutschen und die Lage der Aussiedler in der Bundesrepublik (näheres siehe Kapitel 4).

Noch 1989 erschien in Kirgisien ein Sammelband mit denunziatorischen Beiträgen gegen Emigranten und Glaubensanhänger, der mit genau dem gleichen Wortlaut auch in den 1970er Jahren hätte veröffentlicht werden können. (19) Diese mittelasiatische Unionsrepublik wurde zu Recht bis Ende der achtziger Jahre als “Reservat der Stagnation” bezeichnet. Nur die Wahl Askar Akaews im Oktober 1990 zum ersten Präsidenten führte zu einer spürbaren Demokratisierung der kirgisischen Gesellschaft.

Manche Einblicke in den Prozeß der Entstehung der nationalen Geschichtsschreibung bietet das Buch von Josef Schleicher, einem Absolventen der historischen Fakultät der Altaer Staatsuniversität in Barnaul und Mitarbeiter der Zeitung “Rote Fahne” in Slawgorod. Ein intensiver Gedankenaustausch seit 1985 gab uns wichtige Anregungen für eine grundlegende Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen der Geschichte und Gegenwart der Rußlanddeutschen, auf den er teilweise in seinem Buch einging (20) (einige Auszüge aus seinem Werk in deutsch: S. 37-50 und S. 75-81 ).

Zu der Radikalisierung meiner damaligen Auffassung über die Vergangenheit und Zukunft der deutschen Volksgruppe trugen zwei Ereignisse entschieden bei: die Erhebung der kasachischen Jugend im Dezember 1986 in Alma-Ata, die gegen den russischen Statthalter Gennadi Kolbin als verordneten 1. Parteisekretär der Republik protestierten und die Massendemonstrationen der Krim-Tataren in Moskau mit der Forderung nach Wiederherstellung ihrer autonomen Republik im Juli 1987. Beide Ereignisse lösten, entgegen dem bis dahin üblichen totalen Stillschweigen, nach anfänglichem Zögern eine lebhafte Besprechung in zentralen und regionalen Massenmedien aus. Die ersten Auswirkungen dieser neuen Lage schlugen sich in einer Zuschrift an das Wochenblatt des sowjetischen Schriftstellerverbandes “Literaturnaja gazeta” (Literaturzeitung) nieder. In diesem Brief vom 16. April 1987 wies ich auf den nicht mehr lange hinnehmbaren Zustand hin, in dem sich die deutsche Minderheit in der UdSSR befand und forderte unmißverständlich die Wiederherstellung der territorialen Autonomie (Urtext russisch vom 16.04.87).

Beim Schreiben von Briefen, Appellen und Zuschriften an die Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften ging man in der Regel wie folgt vor: in der Einführung wurde Bezug auf diesen oder jenen Aufsatz bzw. Artikel genommen, um dann auf die Probleme der Rußlanddeutschen überzugehen. Als Argumentationshilfe dienten dabei Verweise auf verschiedene Quellen, in erster Linie passende Zitate aus der Schatzgrube der “Klassiker” des Marxismus-Leninismus Karl Marx, Friedrich Engels und vor allem Wladimir Lenin. Als eine tragende Säule erwies sich die akribisch zusammengestellte 12-bändige biographische Chronik von W. Lenin, die aus damaliger Sicht wertvolle Auskünfte über Beziehungen des Gründers des ersten sozialistischen Staates zu den Deutschen, v.a. den Wolgadeutschen enthielt. (21) Dann folgten nach Bedarf einige Verweise auf diesen oder jenen Absatz aus den Reden von Gorbatschow und anderen Parteifunktionären auf der Unions- bzw. Republikebene oder auf aktuelle Partei- und Regierungsbeschlüsse. Das ganze wurde zusätzlich durch Hinweise auf wissenschaftliche Abhandlungen, vor allem auf solche, die in der Sowjetunion erschienen sind und je nachdem mit Gedanken von Publizisten, Schriftstellern und anderen prominenten Persönlichkeiten untermauert. Ferner konnte ich auf die Erfahrungen der “brüderlichen” sozialistischen Ländern im Umgang mit ihren Minderheiten hinweisen; in Bezug auf die Deutschen waren es vor allem Ungarn, aber auch Rumänien und die Tschechoslowakei. Selten fehlte im Brief eine sorgenvolle Erwähnung des ideologischen “Gegners”, der durch eine anhaltende Diskriminierung der Sowjetdeutschen einen gewichtigen Trumpf in die Hände bekam, der es ihm ermöglichte, die Sowjetunion “anzuschwärzen” und den Sozialismus insgesamt zu “verleumden”.

Bei der Darstellung der historischen Zusammenhänge hat sich im Laufe der Zeit ein gewisses Schema herausgebildet, das sich auf folgende vier Eckpunkte stützte. Zum einen handelte es sich um die Deutschen im Zarenreich: um die Klassenbildung und -widersprüche innerhalb der deutschen Gemeinden; ihre Loyalität dem russischen Staat gegenüber; die positive Rolle bei der wirtschaftlichen Erschließung der Ansiedlungsrayons; nationale Diskriminierungen und großrussischer Chauvinismus vor 1917; fruchtbare Kontakte zu russischen, ukrainischen u.a. Nachbarn; Teilnahme an dem bolschewistischen Untergrundkampf. Zweitens legte man bei der Schilderung der Zwischenkriegszeit besonderen Wert auf folgende Momente: Befreiung vom zarischen Joch; positive Rolle der “reinen” Lehre des Leninismus für die Lösung der nationalen Frage; 1918 Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen und ihre Umwandlung in die autonome Republik 1924; Unterstützung der Oktoberrevolution durch deutsche Mittel- und Armbauer, insbesondere durch Lieferungen von Lebensmittel; ihr Kampf in den Reihen der Roten Armee im Bürgerkrieg; kulturelle und wirtschaftliche Erfolge der ASSRdWD; glückliches und gleichberechtigtes Leben der Sowjetdeutschen in den 1920er-30er Jahren. Drittens wurden in den Kriegs- und Nachkriegsjahren folgende Ereignisse unterstrichen: schädliche Auswirkungen des Personenkults von Stalin, v.a. die unbegründete Auflösung der Wolgadeutschen Republik und die Aussiedlung nach Sibirien und Kasachstan; Patriotismus der Sowjetdeutschen und ihre heldenhafte Arbeit für den Sieg im Hinterland; unvollständige Rehabilitierung in den 1950er-60er Jahren und deren negative Folgen für die gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung; die Kritik am halbherzigen Regierungserlaß vom 29. August 1964, der zwar die willkürlichen Beschuldigungen aufhob, aber sich gegen die Wiederherstellung der aufgelösten Republik aussprach; die gegenwärtige Lage der deutschen Minderheit im Vergleich mit anderen sowjetischen Völkern; ihre enge Verbundenheit mit der sowjetischen Heimat, ungeachtet des erlittenen Unrechts. Und zum Schluß kamen Vorschläge, wie die geschilderten Mißstände zu beheben seien und die deutsche Volksgruppe endlich als “gleiche unter Gleichen” zum Wohle der Sowjetheimat gedeihen konnte.

Es fragt sich im nachhinein, ob damals eine zu positive oder zu einseitige Rekonstruktion der Vergangenheit der deutschen Minderheit zumindest von mir angestrebt wurde? Aus heutiger Sicht, mit dem gegenwärtigem Wissensstand, eindeutig ja. Zu jener Zeit war man sich dessen nicht so bewußt. Die Aufgabe bestand vielmehr darin, überhaupt was positives über den historischen Werdegang der “Sowjet”deutschen zu schreiben und vor allem zu publizieren. Als Muster dienten nationale Geschichten der nichtrussischen Völker der UdSSR, die größtenteils erst in den 1940er-50er Jahren eine systematische Darstellung bekamen.

Meine damaligen Vorstellungen von der rußlanddeutschen Problematik trug ich im Mai 1987 in Form einer ausführlichen Denkschrift zusammen, die ich dann unter meinen Freunden in Nowosibirsk verteilte und an einige zentrale Presseorgane wie “Prawda” und “Iswestija” schickte (Urtext russisch vom 10.05.87). In einem geschichtlichen Vorspann wurde hier gegen die gängige Betrachtung der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung Stellung genommen. In der sowjetischen Historiographie und Publizistik bedeutete diese Bauerneinwanderung vordergründig einen von langer Hand vorbereiteten “Drang nach Osten”, der das Ziel verfolgte, die slawischen Völker zu kolonisieren, zu unterwerfen und auszubeuten. Diesem Zweck sollte angeblich genauso die Ansiedlung der deutschen Bauern im Wolga- und Schwarzmeergebiet im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dienen. Beispiele der patriotischen Betätigungen der Kolonisten im Krim-Krieg und im Ersten Weltkrieg sollten ihre tiefe Verwurzelung in ihrer neuen Heimat und ihre Loyalität zum russischen Staat bezeugen. Einen breiten Raum nahmen die Schilderungen von Ausweisungen aus den Grenzgebieten, Enteignungen, antideutsche Pogrome, Verbot des deutschsprachigen Bildungs- und Pressewesens und andere chauvinistische Maßnahmen gegen russische Bürger deutscher Herkunft in den Jahren 1914-1917 ein, die – im Text besonders unterstrichen – die Bolschewiki nach der Machübernahme scharf verurteilten.

Ausführlich wurde die Rolle der wolgadeutschen Siedlungen bei der Belieferung der bolschewistischen Zentren mit Getreide und anderen Lebensmitteln in den Jahren 1918-1920 beleuchtet und auf die Bedeutung hingewiesen, die Lenin dieser Region beimaß. Die Autonome Republik der Wolgadeutschen spielte neben einer Anzahl von deutschen Rayons und Dorfräten, ähnlich wie bei den anderen Nationalitäten, eine große Rolle in der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der “sowjet”deutschen Bevölkerung, so meine damalige Einstellung. Gerade die Abkehr von der leninschen Neuen Ökonomischen Politik, die seit 1921 viel zur wirtschaftlichen Erholung und politischen Stabilisierung des Landes beitrug, führte zur Entstehung einer Emigrationsbewegung im Jahr 1929, die man als Reaktion auf die von Stalin brutal vorangetriebene Zwangskollektivierung der Bauernschaft verstand.

Stalins Bruch mit der leninschen Lehre erreichte seinen Höhepunkt in der Deportation von Deutschen, Kalmücken, Krimtataren und anderen Völkern und der Liquidation ihrer autonomen Republiken bzw. Gebiete. Besonders schwer lastete die Beschuldigung des Vaterlandsverrats auf der deutschen Bevölkerung, die unter dem ins Unermeßliche gestiegenen Deutschenhaß leiden mußte. Ihre patriotischen Leistungen während des Krieges, ob in den kämpfenden Einheiten oder im tiefsten Hinterland (“Trudarmija”), wurden jahrzehntelang systematisch verschwiegen. Im Gegensatz zu anderen verfolgten Völkern, die 1957 öffentlich rehabilitiert wurden – vor allem durch die Wiederherstellung ihrer territorialer Autonomien – kritisierte ich die Art und Weise, wie die Aufhebung des Kollaborationsvorwurfs im Jahr 1964 vonstatten ging.

Es gelang mir, die Ergebnisse der Volkszählung von 1979 für das Gebiet Nowosibirsk in die Hände zu bekommen, die mit dem üblichen Vermerk “Nur für den Dienstgebrauch” der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. (22) Die Auswirkungen der jahrzehntelangen Diskriminierung der Rußlanddeutschen konnten mit Hilfe einiger Daten illustriert werden: so waren sie z.B. in den unqualifizierten Berufen mit manueller Arbeit überproportional vertreten. Die Deutschen machten 1979 2,4% der Bevölkerung dieses Gebiets, aber 6,3% aller Mechanisatoren und 9,1% der Schweinezüchter aus. Gleichzeitig war ihr Anteil unter solchen intellektuellen Berufen wie Hochschullehrer (0,85%) oder Literaten (0,71%) sowie unter Führungskräften (0,69%) verschwindend gering. Zum damaligen Zeitpunkt hielt ich es für mögliche, die künftige Deutsche autonome Republik im Grenzgebiet zwischen Altai/Sibirien und Pawlodar/Kasachstan auf der Basis der hier seit Beginn des 20. Jahrhunderts existierenden deutschen Ortschaften anzusiedeln. Die rasche Politisierung und Ethnisierung der sowjetischen Gesellschaft, vor allem der Ende 1987 entbrannte Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach, zeigte das wahre Ausmaß dieses Wunschbildes; auf den obengenannten Vorschlag kam ich so gut wie nie zurück.

Diese Abhandlung blieb ohne erkennbare Wirkung. Immerhin ermöglichte eine derartige Denkschrift eine gewisse Systematisierung in der Darstellung geschichtlicher Abläufe, aktueller Lage und pragmatischer Lösungsansätze. Rückblickend erwies sich diese Bestandsaufnahme als ein wahrer Steinbruch für eine Anzahl späterer Stellungnahmen und Beiträge. Die im Januar 1988 erschienen Artikel in “Leninskaja smena” und “Sowetskaja Kirgisija” signalisierten den Beginn einer ganz neuen Etappe auf dem Weg zur ernsthaften Aufarbeitung der Vergangenheit und Gegenwart der Rußlanddeutschen. Ohne der intensiven Vorbereitungsphase in den Jahren 1985-1987 wäre es für mich einfach unmöglich, in den darauffolgenden Jahren an den zahlreichen Diskussionen sachlich teilzunehmen.

© Viktor Krieger, 2003

 

Anmerkungen:

    (1) So befanden sich in dieser Bibliothek Arbeiten von Karl Stumpp, versehen mit persönlichen Widmungen an die Bücherei, wie: “Das Schrifttum über das Deutschtum in Rußland. Eine Bibliographie. 5., erweiterte Ausgabe. Stuttgart 1980” und “Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862. Stuttgart 1978”

     (2) Ein Brief mit ähnlichem Inhalt zum gleichen Zeitpunkt an die russischsprachige Zeitschrift “Rumynija” (Rumänien) blieb unterdessen ohne Antwort und Wirkung.

    (3) “Gleichberechtigung der Nationalitäten – ein Gesetz im Sozialismus. Aus der Rede von György Aczel auf dem 6. Kongreß der Ungarndeutschen am 3. Dezember 1983”, in: Deutscher Kalender 1985. Jahrbuch für die Ungarndeutschen. Budapest, o.J., S. 33-38.

    (4) Antwortschreiben von W. Zukalow, den Chef der Zentralen Agentur “Sojuspetschat” für ausländische Periodika vom 23. November 1987, in: privates Archiv des Verfassers. “Neue Literatur” war zum damaligen Zeitpunkt eine Monatsschrift der deutschsprachigen Schriftsteller in Rumänien; hauptsächlich der Kulturgeschichte der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben widmeten sich “Forschungen zur Volks- und Landeskunde”, herausgegeben in Sibiu/Hermannstadt von der Rumänischen Akademie der Wissenschaft; Tageszeitung “Neuer Weg” fungierte als Zentralorgan der deutschen Bevölkerungsgruppe ebenfalls in Rumänien.

     (5) Realität beachten. Schlußfolgerungen aus dem Deutschunterricht in Ungarn, in: Neues Leben, Nr. 5 vom 24. Januar 1990, S. 10 (Urtext russisch vom 29.06.89, Artikel deutsch vom 24.01.90)

     (6) Vremja konsolidacii sil, [Zeit zur Konsolidierung der Kräfte], in: Neues Leben, Nr. 48 vom 23. November 1988, S. 1-2. Die deutsche Übersetzung erschien in der Zeitschrift Osteuropa, Jg. 40, 1/1990, (Osteuropa-Archiv), S. A9-A11. Die Verweise auf den russisch- und deutschsprachigen Text finden sich im Kapitel 2.4.

    (7a)Vgl.: Irina Davydova: Die Novosibirsker Soziologische Schule. Aufstieg und Niedergang eines regionalen sozialwissenschaftlichen Zentrums, in: Sozialwissenschaft in Rußland. Bd. 2. Analysen russischer Forschungen zu Sozialstruktur, Wählerverhalten, Regionalentwicklung, ethnischen Konflikten, Geopolitik, nationalen Interessen und Sowjetgeschichte. Berlin 1997, S. 151-172

     (7b) Anklageschrift gegen Viktor A. Axt, Konstantin A. Asmus, Wjatscheslaw A. Maier, Christian F. Ramchen vom 31. Dezember 1982, vorbereitet von dem führenden Ermittlungsrichter bei der Staatsanwaltschaft des Gebiets Nowosibirsk, A.P. Redko, 10 S., Abschrift, im Besitz des Verfassers (russisch); Kerstin Armborst: Ablösung von der Sowjetunion: Die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. Münster 2001, S. 322, 366.

     (8) Alle vier sind inzwischen nach Deutschland emigriert. Soweit bekannt, interessiert sich nur Maier weiter aktiv über die Lage der deutschen Minderheit in der einstigen UdSSR, vgl. Wenzeslaus Maier: Gib uns Sündern, Herr – den Deutschen. Zur Diskussion um eine neue deutsche Wolgarepublik, in: Kontinent (Ost-West Forum), 3/1992, S. 47-55.

     (9) Sowjetpropagandisten nutzten diese parlamentarische Debatte als Anlaß, eine direkte Kontinuität zwischen der Politik der Bundesregierung und des Hitler-Regimes zu ziehen, die darauf hinsteuerte, die deutschen Minderheiten, darunter auch die Rußlanddeutschen, als “fünfte Kolonne” für ihre revanchistischen Ziele zu mißbrauchen, vgl. Tolpegin A. Ne tol’ko “kresty za zaslugi” [Nicht nur “Verdienstkreuze”], in: Novoe vremja [Neue Zeit], Nr. 48 vom 23. November 1984, S. 8-9.

     (10) Istorija rossijskich nemcev v dokumentach [Geschichte der Rußlanddeutschen in Dokumenten] (1763-1992). M. 1993, S. 199-200.

     (11) Soveščanie “O merach po protivodejstviju propagandistskoj kampanii na Zapade vokrug voprosa o položenii graždan nemeckoj nacional’nosti v SSSR, 2-e dekabrja 1985 g.” [Beratung “Über die Maßnahmen gegen die propagandistische Kampagne im Westen in Bezug auf die Lage der Bürger deutscher Nationalität in der UdSSR” vom 2. Dezember 1985], in: Istorija rossijskich..., S. 211-216.

     (12) Klaus-Jürgen Kuss: Ausreise und Auswanderung aus Osteuropa, in: Osteuropa, Jg. 39, 2-3/1989, S. 218-232, v.a. S. 218-220. Jährliche Aussiedlerzahlen siehe z.B. bei Barbara Dietz: Zwischen Anpassung und Autonomie. Rußlanddeutsche in der vormaligen Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1995 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München: Reihe Wirtschaft und Gesellschaft; H. 22), S. 184.

     (13) Wolfgang Leonhard: Die Reform entläßt ihre Väter: der steinige Weg zum modernen Rußland. 1994, S. 89-94.

     (14) Ausführlich dazu: Boris Meissner: Die Sowjetunion im Umbruch. Historische Hintergründe, Ziele und Grenzen der Reformpolitik Gorbatschews. Stuttgart 1988, v.a. S. 190-211.

     (15) Nach der orthodoxen sowjetischen Auffassung besaßen die so eingestuften Ethnien kein Recht auf eine territoriale Autonomie. Ausführlicher über die Bedeutung der Begriffe Nation, Staatsvolk, Volk, Nationalität, Ethnie, Volksgruppe, nationale bzw. ethnische Minderheit, autochthone Bevölkerung, Titularnation etc. in Bezug auf die Rußlanddeutschen im Kapitel 2.2. Vgl. im allgemeinen: Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992; Joachim Stark: Völker, Ethnien, Minderheiten. Bemerkungen zur Erkenntnisterminologie der Minderheitenforschung, in: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde. Bd. 31, 1988, S. 1-55. Zur sowjetischen ethnographischen Terminologie vgl.: Boris Meissner: Nationalitätenfrage und Sowjetideologie, in: Nationalitäten-Probleme in der Sowjetunion und Osteuropa. Köln 1982, S. 11-44, v.a. S. 24-27; Leokadija Drobiževa: Ethnizität und Nationalismus in der post-sowjetischen Gesellschaft. Diskussionsschwerpunkte der 90er Jahre, in: Sozialwissenschaft in Rußland. Bd. 2. (1997), S. 184-204.

     (16) Später schlug die Redaktion vor, meine Ansichten über die Formen und Wege zur Lösung der “deutschen Frage” den Lesern der “Leninskaja smena” vorzustellen. Diesbezügliche Überlegungen erschien allerdings in einer stark verkürzten Fassung im November 1989 (Verweise auf Artikel und Urtext finden sich im Kapitel 2.4.)

     (17) Iz istorii nemcev Kytgyzstana: 1917-1999 gg.: Sbornik dokumentov i materialov [Aus der Geschichte der Deutschen in Kyrgyzstan. 1917-1999. Quellenband]. Biškek 2000, v.a. S. 443-482, 493-507; Naselenie Kyrgyzstana. Itogi pervoj nacional’noj perepisi naselenija Kyrgyzskoj Respubliki 1999 v tablicach. Kniga II (čast‘ 1) [Die Bevölkerung Kyrgyzstans. Tabellarische Ergebnisse der ersten nationalen Volkszählung der Republik Kyrgyzstan im Jahr 1999. Buch II (Teil 1.)]. Biškek 2000, S. 76-78; Demografičeskij ežegodnik SNG v 1993 g. Demographic Yearbook CIS 1993. M. 1995, S. 48-50.

     (18) “Net nikakich problem?” [Es gibt keine Probleme?], in: Sovetskaja Kirgizija, Nr. 7 vom 9. Januar 1988.

     (19) Čužoe nebo ne sogreet. Svidetel’stva očevidcev. Očerki. Reportaži. Interv’ju [Fremder Himmel wärmt nicht. Aussagen von Augenzeugen. Skizzen. Reportagen. Interviews]. Frunze 1989. Derartige Billigpropaganda hatte eine lange Tradition in der Republik. Zwei Auflagen erlebte z.B. ein ähnlicher Sammelband, der aus vorher veröffentlichten Zeitungsartikeln bestand: Mify i dejstvitel’nost‘. Stat’i. Očerki. Vospominanija. Svidetel’stva očevidcev [Mythen und Wirklichkeit. Aufsätze. Skizzen. Erinnerungen. Augenzeugenberichte]. Frunze 1977 (2. Auflage 1979)

     (20) Josef Schleicher: Autonomiebewegung: provinzielle Träume. M. 1996

     (21) Lenin V.I. Biografičeskaja chronika. Toma 1-12 [Biographische Chronik. Bände 1-12].  M. 1970-1982. Diesem Thema ist mein Aufsatz im “Neuen Leben” über Lenin und die Wolgadeutschen gewidmet, siehe dazu Kapitel 2.2.

     (22) Charakteristika naselenija otdel’nych nacional’nostej, proživajuščich na territorii Novosibirskoj oblasti (po perepisi 1979 g.) [Charakterisierung der Bevölkerung einzelner Nationalitäten, die auf dem Territorium des Gebiets Nowosibirsk wohnhaft sind (nach der Volkszählung von 1979)]. Novosibirsk 1981.