Kapitel 3. Zeit der Enttäuschungen, 1990-91
Anfang 1990 konnte man schon mehr oder weniger davon ausgehen, daß die Deutsche Autonome Republik auf dem Rechtsweg nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Ich konzentrierte mich in dieser Zeit auf den Abschluß meiner Doktorarbeit über die Geschichte der deutschen Bauern in Kasachstan. Die Enttäuschung über die bisher schleppend vorankommenden Wiedergutmachungsversuche, die ablehnende Haltung des überwiegenden Teils der Bevölkerung in den Gebieten Saratow und Wolgograd hinsichtlich der Wiederherstellung der deutschen Autonomie fand ihren Niederschlag in der Anregung, den Raum Kaliningrad, ehem. Ostpreußen um Königsberg, als Zeichen der deutsch-russischen Versöhnung für die Gründung einer Deutschen (Baltischen) Republik vorzuschlagen (Urtext russisch vom 17.07.90, Artikel russisch vom 22.08.90) (1). Dieser Gedanke war nicht neu; als einer der ersten artikulierte ihn vor fast einem Jahr der Journalisten Kurt Wiedmeier in einer aufsehenerregenden Publikation in der Zeitung des sowjetischen Schriftstellerverbandes “Literaturnaja Gaseta”. (2) Der Kerngedanke meines Beitrages war vielmehr der, daß Rußlanddeutsche als Versöhnungsfaktor zwischen Rußland und Deutschland fungieren können. Hier wies ich hin, daß die Bundesrepublik ihre Versöhnungsbereitschaft demonstriert, in dem sie öffentlich zahlreiche Verbrechen gesteht, die in deutschem Namen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion verübt wurden. Den Opfern des Nationalsozialismus wurden Entschädigungen zugebilligt, die Jugend wird im antimilitaristischen Geiste erzogen, die deutsche Seite beteiligt sich an der Wiederherstellung von den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kulturobjekten usw. Aber die sowjetische, die russische Seite, was unternimmt sie, um die zahlreichen staatlichen Verbrechen v.a. an den eigenen Bürgern zu gedenken und die Opfer zu entschädigen? Auf dem ehrlichen Versöhnungsweg darf man, so weiter im Artikel, auch “solche bittere Seiten, wie die Vertreibung der Deutschen, unter anderem aus Ostpreußen, nicht vertuschen.” Anfang 1991 hat man mich gebeten, im Namen der Gesellschaft “Wiedergeburt” aus Dschambul auf ein Schmähblatt der anti-autonomen Kräfte im Gebiet Saratow zu antworten (Urtext russisch vom 19.01.91). Selbstverständlich wußte man im voraus über die Vergeblichkeit derartigen Bemühungen, die aufgebrachte Gegenseite mit rationalen Argumenten wenn nicht zu überzeugen, doch zumindestens zum Nachdenken zu bringen. In dieser Zeit erklärten bestimmte Kreise Lenin zu einer Unperson, weil er angeblich für das reichsdeutsche Geld die wolgadeutsche Autonomie im Jahre 1918 gründete und dabei auf das Staatsvolk keine Rücksicht nahm - eine dieser unzähligen russischen Dolchstoßlegenden. (3) Kurz vor der Abreise in die Bundesrepublik Deutschland bereitete ich einen Beitrag vor mit der Überschrift: “Versuch einer individuellen Betrachtung oder an was fehlt es den Rußlanddeutschen in der UdSSR”, der mit einigen Kürzungen auf Russisch in der “Deutschen Allgemeinen Zeitung” (Nachfolgerin von “Freundschaft”) in drei Folgen im Juli und August 1991 erschien (Urtext russisch vom 05.06.91, Artikel russisch vom 07.08.91). Dies war ein s.g. “Schwanengesang”, wo ich meine Ansichten über die Lage der Rußlanddeutschen darlegte und die Hauptgründe für die andauernde Emigration nannte. Was führt dazu, das Land, wo man geboren und sozialisiert ist, zu verlassen und in ein fremdes zu ziehen? Zitat aus dem Beitrag: “Die Antwort auf diese Frage lautet: Das Streben nach Freiheit, nach der ethnischen, religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Freiheit. Freiheit und Recht – das steht auf den Fahnen unserer Auswanderer geschrieben... ” Hier ging ich auf den oft vorgebrachten Einwand ein: Wieso müssen die Deutschen in der Sowjetunion ein autonomes Territorium haben und die Pennsylvaniendeutschen in den USA oder die “russischen” Mennoniten in Kanada z.B. nicht? Wieso wanderten letztere nicht nach Deutschland aus, obwohl sie die deutsche Muttersprache praktisch vollständig zugunsten des Englischen aufgegeben haben? Weil in einer demokratischen Gesellschaft - meiner Meinung nach - die territoriale Autonomie nicht zwingend notwendig ist, um die Gleichheit aller Bürger zu gewährleisten. Die Nachfahren der Schwarzmeer- bzw. Wolgadeutschen in North Dakota, Kansas oder in Manitoba (4) hätten im Traum nicht davon gedacht, nach Deutschland als Aussiedler zurückzukehren, sogar wenn sie diese Option gehabt hätten. Wieso denn auch? In ihrer nordamerikanischen Heimat sind sie freie Bürger in einer Gesellschaft geworden, deren Eckpfeiler Demokratie, Marktwirtschaft und Privateigentum sind. Ihre Bürgerrechte, ihr Land- oder Immobilienbesitz werden vom Gesetz geschützt; sie können ungehindert ihrem Glauben nachgehen und kulturelle Besonderheiten pflegen, Vereine gründen, an einer Universität studieren, gesellschaftliche oder politische Funktionen ausüben. Individuelle Fähigkeiten und persönlicher Einsatz sind die Faktoren, von denen in ersten Linie die eigene Zukunft abhängt. Diese fundamentalen Menschenrechte, die die nordamerikanischen Demokratien ihren Bürgern garantieren, sind es, die zu der weitgehenden Akzeptanz der herausragenden Stellung des Englischen und des Verlustes der eigenen Muttersprache führen, zumal staatlicherseits keine anderen Sprachen gefördert werden. Privaten Aktivitäten in diesem Bereich wird jedoch kein Riegel vorgeschoben: wer Wert darauf legt, kann sich seine Deutschkenntnisse in Sonntagsschulen oder während eines Aufenthalts bzw. Studiums im Ausland erwerben. Selbstverständlich gibt es unter den Deutschamerikanern arme Familien oder gescheiterte Existenzen. Aber jedem ist klar, daß ein persönlicher Mißerfolg so gut wie nichts mit dem gesellschaftlichen System oder mit ethnischer Zugehörigkeit zu tun hat, sondern vor allem individuellen ungünstigen Umständen oder dem eigenen Mißgeschick geschuldet ist. Und wer gibt einem die Gewißheit, daß es in Deutschland besser wird? Warum war es aber in der UdSSR so anders? Weil in der sowjetischen Gesellschaft der Einzelne dem Staat schutzlos ausgeliefert war: es gab keine Gewaltenteilung, es herrschte eine Partei mit Anspruch auf Unfehlbarkeit, Privateigentum bzw. die -initiative waren verboten. Der staatlichen Willkür waren keine Grenzen gesetzt, was sich in den zahlreichen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen äußerte. Die Behörden mißachteten auf Schritt und Tritt die deklarierten Rechte der Bürger. Die Regeln des freien Marktes waren außer Kraft gesetzt. Um in solch einer Gesellschaft vorwärts zu kommen, brauchte man vor allem ”die richtige” soziale und ethnische Herkunft. Auch war man auf etwaige einflußreiche Verwandte und/oder gute Bekannte im Partei- bzw. Staatsapparat und in dem Dienstleistungsbereich angewiesen, die einen Studienplatz, eine erträgliche Arbeitsstelle, qualifizierte medizinische Versorgung oder einfach eine Mangelware verschaffen konnten. Was soll denn einen nach Leistung und geschriebenen Gesetzen orientierten Menschen in so einer Gesellschaft halten, in der er zusätzlich wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit massiven Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt ist, wenn er die Möglichkeit besäße, in einem westlichen Rechtsstaat mit marktwirtschaftlicher Ordnung ganz von vorne anzufangen? Mit Sicherheit wäre eine völlig andere Situation entstanden, gesetzt der Fall, es gäbe keinen bolschewistischen Umsturz. Die Deutschen stellten 1914 z.B. im Kreis Kamyschin, Gouvernement Saratow und Nowousensk, Gouvernement Samara 48 resp. 36 Prozent der Bevölkerung. Katharinenstadt, Balzer und eine Reihe anderer Siedlungen zählten schon damals mit ihren 10.000 – 14.000 Einwohnern faktisch zu den Kleinstädten mit Werken und Fabriken, zahlreichen Handwerkern, Gewerbetreibenden und Händlern, einer Reihe von Grundschulen und Gymnasien, gemeinnützigen Verbänden, Apotheken, Verlagen... Wenn man die vorangegangene demographische Dynamik berücksichtigt, so wären heute allein im Wolgagebiet bestimmt nicht weniger als 2 Millionen deutschstämmige Einwohner ansässig. Private lutherische, katholische oder mennonitische Universitäten neben einem Netz nichtstaatlicher schulischer und konfessioneller Einrichtungen würden heutzutage dem spezifischen Bildungsbedarf die Rechnung tragen. Die Nähe der prosperierenden Wirtschaftsmetropole Saratow mit ihren Hochschulen, einem internationalen Flughafen und zahlreichen anderen infrastrukturellen und kulturellen Einrichtungen hätte bestimmt positive Einflüsse auf wirtschaftliche, soziale und intellektuelle Entwicklung der Deutschen gehabt. Ähnlich den Pensylvaniendeutschen wären sie in der russischen Gesellschaft fest integriert: Rechtsstaat, privates Eigentum, marktwirtschaftliche Ordnung, weitgehende Selbstverwaltung, Abgeordnete auf regionaler und Reichsebene, die Rücksicht auf die wolgadeutsche Wählerschaft nehmen und ihre Interessen vertreten würden. Das wären die tragenden Säulen des Staatspatriotismus, den die Mehrheit der Rußlanddeutschen bereits im Ersten Weltkrieg unter Beweis stellte: allein um die 100.000 Wolgakolonisten kämpften in der russischen Armee gegen Deutschland und seine Alliierten. Unter solchen Umständen wäre für die Rußlanddeutschen eine territoriale Autonomie bei weitem keine unumgängliche Voraussetzung für ihre rechtliche Gleichstellung im multinationalen russischen Reich. Aber in einem sozialistischen Staat würde sogar eine nationale Republik die Emigration nicht aufhalten können: “Glaubt denn jemand im Ernst, daß es der innigste Wunsch eines Deutschen in der UdSSR sei, die marxsistisch-leninistische Philosophie in deutscher Sprache zu studieren? Oder daß es dem Rußlanddeutschen für das Gefühl eines vollkommenen irdischen Glückes genügen würde, wenn ein Landsmann den Posten des Ersten Sekretärs der Parteiorganisation der autonomen Republik oder des Vorsitzenden des Ministerrates bekleiden würde?” Das Schicksal der einstigen DDR mit ihren honeckers und mielkes sei ein Menetekel genug. Als eine Marginalie sei hier vermerkt, daß nach der Gründung des nationalen Rayons “Halbstadt” im Juli 1991 in der Region Altai sofort Vorbereitungen zur Gründung einer kommunistischen Organisation begonnen haben. Mitte August kam es unter den 443 noch verbliebenen Parteimitgliedern auf dem Territorium des deutschen Landkreises zur Wahl des Rayonparteikomitees. Nur das Scheitern des August-Putsches und das darauffolgende Verbot der KPdSU bereitete diesem Spuk ein Ende; jedoch bestimmten die kommunistische Ideologie und die verkrusteten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen weiterhin die Handlungsweise der örtlichen Behörden. (5) Fazit des Beitrages: Nur in einem Rußland, das rechtstaatlichen Prinzipien folgt, in dem die Gesetze der Marktwirschaft herrschen, das seinen Deutschen gleiche Rechte und Möglichkeiten wie anderen Nationalitäten einräumt, wo zahlreiche Verbrechen an dieser Minderheit schonungslos verurteilt, die Betroffenen entschädigt und Germanophobie bekämpft wird, kann ein autonomes Territorialgebilde mit weitgehender Selbstverwaltung eine reelle Alternative zur Auswanderung nach Deutschland bieten. © Viktor Krieger, 2003 Anmerkungen: (1) Neues Leben, Nr. 35 vom 22. August 1990 (2) Nemeckaja avtonomija.Gde? Kogda? Kak? [Eine deutsche Autonomie. Wo? Wann? Wie? in: Literaturnaja gazeta [Literaturzeitung], 11. Oktober 1989, S. 11. Einige Ergebnisse dieser Publikation besprach Kurt Wiedmeier u.a. in einem Beitrag in der bekannten populär- historischen Zeitschrift “Rodina” [Heimat]: “Pomogite nam ostat’sja v Rossii!”. Najdut li sovetskie nemcy želannuju sredu obitanija? [“Helft uns, in Rußland zu bleiben.” Ob die Sowjetdeutschen den gewünschten Siedlungsraum finden?], in: Rodina, 8/1991, S. 61-65. (3) Die meisten “Argumente” entnahmen die Autoren des Blattes aus dem Aufsatz von zwei bekannten Moskauer Publizisten, die sich zahlreichen antideutschen Klischees bedienten und ausdrücklich gegen eine territoriale Rehabilitation der Rußlanddeutschen aussprachen, vgl. Mjalo K., Gončarov P.: Linija sud’by [Schicksalslinie], in: Naš sovremennik [Unser Zeitgenosse], 1990, Nr. 9, S. 143-154. (4) Heute sind von den rund 600.000 Einwohner des Bundesstaates North Dakota etwa 45 Prozent schwarzmeerdeutscher Abstammung. Die Einwanderung der Rußlanddeutschen vor 1914 in die USA und ihre Integration in die amerikanische Gesellschaft behandelt u.a. Susanne Janssen: Vom Zarenreich in den Amerikanischen Westen: Rußlanddeutsche Emigranten in North Dakota und Nebraska (1870-1928), in: Hans Rothe (Hrsg.): Deutsche in Rußland. Köln etc. 1996, S. 87-101, hier S. 92 (Studien zum Deutschtum im Osten; H. 27) (5) Josef Schleicher: Autonomiebewegung: Provinzielle Träume. Moskau 1996, S. 255.
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