Vorwort
Es war das Jahr 1988, an dem ich am Institut für Geschichte, Archäologie und Ethnographie (seit 1992 Institut für Geschichte und Ethnologie) der Akademie der Wissenschaften Kasachstans, Alma-Ata als außerplanmäßiger Bewerber zum Erlangen des Doktorgrades eingestellt wurde. Das Thema meiner Dissertation war die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Tochtersiedlungen in Kasachstan vor 1917. Dadurch bekam ich die Möglichkeit, seltene Publikationen und wichtige Archivbestände in Leningrad (St. Petersburg), Moskau, Alma-Ata, Omsk und Taschkent einzusehen. Somit gehöre ich wohl zu den Vertretern der sog. “minderheitenorientierten ethnischen Geschichtsschreibung”, die “ihr Recht auf eigene Geschichte reklamieren”. Viele insgesamt interessante und anregende Einsichten enthält die Studie der Kulturanthropologin und Ethnologin Regina Römhild “Die Macht des Ethnischen. Grenzfall Rußlanddeutsche”, Frankfurt/Main 1998, aus der im vorigen Satz zitiert wurde. Inwieweit jedoch ihre Behauptung zutrifft, daß die Minderheitengeschichte und somit die der Rußlanddeutschen “in der Tendenz also deutlich konservativ in dem Sinn [ist], daß sie existentielle Veränderungen ihres Subjekts und auch kulturelle Verflechtungen mit ethnischen Anderen negativ bewertet oder leugnet”, möge der Leser nach der Lektüre dieser INTERNET-Seite selbst beurteilen.
Meine unveröffentlichten oder gedruckten Zu- und Denkschriften, Stellungnahmen, Rezensionen, Repliken etc. bis zur Übersiedlung nach Deutschland im August 1991 möchte ich zum Zweck der geschichtlichen Wahrheitsfindung dem interessierten Publikum vorstellen. Aus heutiger Sicht erscheinen sie zum Teil oberflächlich, naiv bzw. politisch angepaßt. Diese Denkweise ist vor allem meinem früheren Glauben zuzuschreiben, daß die Rußlanddeutschen – damals nannte man uns noch “Sowjetdeutsche” – eine Zukunft in der sozialistischen Gesellschaft haben könnten. Aus diesem Grund ging es bei der Rekonstruktion der Vergangenheit nicht nur darum, die nationale Geschichte zu erforschen und publik zu machen, sondern sie auch positiv, wenn auch im sowjetischen Sinne, zu besetzen. Deshalb diese ständigen Rückgriffe auf die ersten Jahre der Sowjetmacht, auf die Rolle von Lenin im Schicksal der Wolgadeutschen. Man versuchte, “leninsche” Normen des Parteilebens und der sozialistischen Gesetzlichkeit den inzwischen zugegebenen und heftig kritisierten Verbrechen Stalins gegenüberstellen und auf diesem Wege – bei der proklamierten Gorbatschewscher Politik der “Rückkehr zu Lenin” – die völlige Gleichstellung der Rußlanddeutschen mit den anderen sowjetischen Völkern einzufordern. Zu dieser Strategie gehörte auch eine mißbilligende Haltung gegenüber den Gläubigen.
Ein wesentlicher Zug der unternommenen Bemühungen bestand darin, die Deutschen vom Odium einer “ausländischen” und illoyalen Minderheit zu befreien. Während und nach dem “Großen Vaterländischen Krieg” entfesselte das Sowjetregime eine ungezügelte antideutsche Stimmungsmache. In Massenmedien, Literatur und geschichtlichen Werken galten “Deutscher” und “Faschist” praktisch als Synonyme, was für die Rußlanddeutschen fatale Folgen haben sollte, da zwischen ihnen und den Reichsdeutschen nun keine Unterscheidung mehr gemacht wurde. Ethnisch motivierte Feindseligkeiten, Beleidigungen und Verdächtigungen, obwohl nach Stalins Tod an Schärfe verloren, waren bis zum Ende der Sowjetunion keine Seltenheit. Auch in dieser Hinsicht hätte eine nationale Republik zur Eindämmung der germanophoben Tendenzen sowohl in Führungsgremien als auch in der Gesellschaft beigetragen. Deshalb diese ständig wiederholende Bemühungen, zumindest die Wolgadeutschen als ein autochthones Volk auf dem Territorium Rußlands bzw. der UdSSR darzustellen. Die Indigenisierung der Wolgadeutschen zielte auf die Erhöhung ihrer Akzeptanz in der Machtelite und unter der sowjetischen/russischen Bevölkerung und sollte ihr Recht auf ein autonomes Territorialgebilde untermauern. Das ging mit einer deutlichen Abgrenzung von der historischen Heimat Deutschland einher.
Wenn man das, was ich damals geschrieben und teilweise veröffentlicht habe, noch einmal durchliest, so sticht der verbissene Drang nach Gerechtigkeit sofort ins Auge. Das verletzte Gerechtigkeitsgefühl vieler meiner Landsleute war ein weitverbreitetes Phänomen. Wieso bekamen die Deutschen in der UdSSR nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, zur kulturellen und sprachlicher Entwicklung wie Dutzende anderer Ethnien? Warum dürfen die Deutschen nicht im Baltikum leben und arbeiten, während die Tschuwaschen oder Usbeken kein Probleme damit haben? Wieso wurden jährlich mehrere wissenschaftliche Monographien über die Geschichte, Volkskunde oder soziokulturelle Entwicklung der Burjaten oder Jakuten herausgegeben, über die Rußlanddeutschen aber in vierzig Jahren keine einzige? Warum existieren Schulen mit kasachischer oder baschkirischer Unterrichtssprache, aber nicht mit deutscher, obwohl die letztere weltweit wesentlich mehr verbreitet war als die übrigen Sprachen der Völker der UdSSR? Wieso existieren eine mordowische oder kirgisische Universität und keine deutsche? Wie kommt es dazu, daß es im Obersten Sowjet der UdSSR mehr kalmückische als deutsche Abgeordnete gibt, obwohl die letzteren eine 13 Mal größere Bevölkerungsgruppe vertreten?
Fragen über Fragen, auf die es auch im Rahmen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung keine befriedigenden Antworten gab. Und vor allem: wieso hat man die Wolgadeutsche Republik nicht wiederhergestellt, obwohl der Kollaborationsvorwurf, der 1941 als Hauptgrund für die Auflösung der Autonomie galt, bereits 1964 offiziell aufgehoben und als Willkürakt “des Personenkults um Stalin” bezeichnet wurde?
Die Absage an der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen brachte schwerwiegende Nachteile mit sich, was zu keiner wirklichen Gleichstellung der Deutschen im sozialistischen Vielvölkerstaat führte. In der Sowjetunion waren wichtige politische, kulturelle und sozioökonomische Rechte einzelner Ethnien an das Vorhandensein einer territorialen Autonomie gebunden, so auch der ungehinderte Zugang zum Studium (nationale Universität, pädagogische und technische Institute, höhere Fachschulen usw.), berufliche Aufstiegschancen, Unterricht in der Muttersprache, kulturelle Förderung (Museen, Theater, Forschungsinstitute, Verlage, Zeitungs- und Zeitschriftenwesen etc.), ferner politische Vertretung und Teilhabe an der Macht sowie die Entwicklung des lokalen Handwerks und des Genossenschaftswesens. Somit standen die “territoriallosen” Ethnien auf der untersten Stufe in der Hierarchie der Sowjetvölker. Bei meinen publizistischen und wissenschaftlichen Aktivitäten handelte es sich daher in erster Linie um den Kampf für die Rechte einer Minderheit, die auch vierzig Jahre nach dem Kriegsende vom Sowjetstaat stark diskriminiert wurde.
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Geographische und Personennamen werden im Haupttext in der deutschen Umschreibung wiedergegeben. In den Anmerkungen werden Titel in kyrillischer Schrift nach Regeln der wissenschaftlichen Transliteration aufgenommen.
© Viktor Krieger, 2003
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